Welttag der Menschen mit Behinderung

Welttag der Menschen mit Behinderung

7,8 Millionen – so viele Menschen mit Schwerbehinderung lebten nach Angaben des Statistischen Bundesamtes zum Jahresende 2021 in Deutschland. Das entspricht immerhin fast 10 % der Gesamtbevölkerung in unserem Land. Sie treffen im Alltag auf eine Vielzahl von Barrieren und werden von einer gleichberechtigten Teilhabe abgehalten.

Anlässlich des Welttags der Menschen mit Behinderung am 3. Dezember hat das Bundeskabinett dazu in dieser Woche die Eckpunkte der "Bundesinitiative Barrierefreiheit – Deutschland wird barrierefrei" beschlossen. Darin sind Vorhaben zur Erreichung der Barrierefreiheit in den Bereichen Gesetzgebung, Mobilität, Digitales, Gesundheit sowie Bauen und Wohnen aufgeführt. Zudem soll noch in diesem Jahr die Bundesinitiative Barrierefreiheit starten, mit dem Ziel die Umsetzung der im Koalitionsvertrag vereinbarten Maßnahmen ressortübergreifend voranzubringen und für mehr Barrierefreiheit zu werben.

In den letzten Jahren sind zahlreiche Gesetze im Sinne eines selbstbestimmten und gleichberechtigten Lebens entstanden. Dazu hat sich Deutschland bereits 2009 mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet. Doch die Umsetzung ist alles andere als befriedigend.

Zu den Herausforderungen im Alltag von Menschen mit Behinderung ein Beitrag von Sabine Antonioli, Mitarbeiterin der Teilhabeberatung in Hagenow:

"Die Politik muss unbedingt etwas dafür tun, mehr barrierefreien Wohnraum zu schaffen und zwar nicht nur in Form von betreuten Seniorenwohnungen, sondern generell. Vielen Menschen mit Behinderung, gerade mit starken Mobilitätseinschränkungen, bleibt oft nichts anderes übrig, als in diese Wohnanlagen zu ziehen. Doch ein junger Mensch fühlt sich nicht unbedingt wohl ausschließlich unter älteren Menschen. Das soll nicht diskriminierend gegenüber älteren Menschen wirken, doch die Lebenswelt von jüngeren Menschen ist ja meist eine andere. Hinzu kommt noch, dass sie gezwungen sind, die Gruppenangebote mit zu finanzieren, da diese in den meisten Fällen im Mietpreis inbegriffen sind, ohne dass sie sie nutzen (möchten). Hier muss unbedingt etwas passieren!

Genauso sieht es mit dem barrierefreien Zugang generell aus. Menschen mit Behinderungen, vor allem Menschen, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind, können an vielen Dingen nicht teilhaben, weil ihnen der Zugang nicht ermöglicht wird. Dies ist in allen Lebensbereichen der Fall, wie Arbeit, Freizeit, Einkaufen oder Bildung. Welche Schule ist in unserer Region tatsächlich für Rollstuhlfahrer oder andere Behinderungsarten ausgelegt? So landen oft Schüler*innen mit Rollstuhl oder mit einer Dyskalkulie in der Förderschule, wo diese Kinder ganz und gar nichts zu suchen haben. Wie viele Apotheken, Arztpraxen, Geschäfte sind nur durch Treppen zu erreichen?! Und dass zu einer Zeit, in der es sowieso schon schwierig ist, Ärzte zu finden, die noch Patienten aufnehmen. Ist dann die Zahl beispielhaft von 10 auf 2 reduziert, da es nur zwei Arztpraxen gibt, die ohne Treppen für Rollstuhlfahrer erreichbar sind, dann sieht es schon schlecht aus. Menschen ohne Behinderung können sich häufig gar nicht vorstellen, mit wie vielen Barrieren und Problemen man als Mensch mit Behinderung stößt.

Um nochmal auf den Bereich Bildung einzugehen: Das Schulsystem benötigt dringend eine Schulreform. Nach wie vor wird in Deutschland überwiegend der Frontalunterricht angewandt. Das bedeutet, mit gleicher Methode und gleichem Material in gleichem Tempo das Gleiche lernen. Jedes Kind hat aber sein eigenes Tempo, seine Stärken und Schwächen. In dem einen Fach ist es vielleicht viel schneller als andere und langweilt sich und in einem anderen Fach kommt es nicht mit. Darauf sollte viel mehr eingegangen werden, Wir brauchen mehr individuelles Lernen. Das Kind da abholen, wo es steht. Auch viele Bildungsforscher sehen die Methode des Frontalunterrichts kritisch. Ein Potpourri verschiedener Methoden wird in der modernen Bildungsforschung bevorzugt. Wenn dieses Konzept umgesetzt würde, wäre es auch leichter mit der Inklusion in der Schule. In reformpädagogischen Schulen gibt es schon lange Konzepte, in denen dies ermöglicht wird. Die Gruppen sind häufig klassenübergreifend, also z.B. 1.-4. Klasse lernt zusammen und jedes Kind wird individuell ohne Druck gefördert. Dies ermöglicht auch Kindern mit Behinderung an einer „Schule für Alle“ teilzunehmen und nicht auf einer Sonderschule abgesondert zu werden. Das ist gelebte Inklusion! Viele Eltern von Sonderschüler*innen oder Befürworter*innen von Sonderschulen sehen das kritisch, da sie der Ansicht sind, dass die Kinder auf einer Regelschule nicht anerkannt werden. Diese Bedenken sind sicher auch häufig berechtigt. Die Förderschule einfach so abzuschaffen wäre sicher nicht die Lösung. Damit wären sowohl die Kinder mit als auch ohne Behinderung überfordert und es würde zu Problemen führen. Doch warum fangen wir nicht bei den Kleinen an endlich etwas daran zu ändern und Inklusion von vornherein zu leben. Wenn Kinder auf die Welt kommen, sind sie unvoreingenommen und vorurteilsfrei. Sie sind ehrlich, sagen und fragen das, was sie denken und fühlen. Die Werte, Normen, Regeln und leider auch die Vorurteile lernen sie von uns Erwachsenen. Wenn Kinder ohne Behinderung von klein auf mit Kindern mit Behinderung aufwachsen, essen, spielen, lachen, dann ist das für alle Kinder ganz normal. Und dass sollte es doch sein: ganz normal. Jeder Mensch, der auf der Welt ist, sollte teilhaben können und dabei sein dürfen! Wenn diese Kinder dann zu Schulkindern, Jugendlichen, Erwachsenen, Studierenden und Auszubildenden, Arbeitgebern*innen und Arbeitnehmern*innen werden, ist es für alle ganz normal, dass alle zusammen spielen, studieren, arbeiten und ihre Freizeit miteinander verbringen. Davon profitieren nicht nur die Menschen mit Behinderung. Im Gegenteil: es ist eine Win-Win Situation. Denn so erlernen Kinder von klein auf viele soziale Fähigkeiten, die ihnen später zu Gute kommen.

Norm ist das, was die Gesellschaft als nicht abweichend bezeichnet. Wir als Gesellschaft definieren also, was normal ist oder nicht. Für uns ist es normal, dass alle Menschen unabhängig von Alter, Herkunft, Geschlecht, Religion, Sexualität, Ethnie, Habitus oder Behinderung gemeinsam am Leben teilhaben können!

Bis das gelingen kann, liegt noch ein weiter Weg vor uns. Es müssen noch viele Barrieren abgebaut werden. Das gilt aber auch für die Barrieren in den Köpfen der Menschen, denn häufig fehlt es an Verständnis, Empathie und Wissen. Als Teilhabeberatung begrüßen wir daher die Initiative der Bundesregierung und wünschen uns, dass die dringend notwendigen Vorhaben auch zügig umgesetzt werden."

Eckpunktepapier der Bundesregierung

https://www.teilhabeberatung-hagenow.de/